Beim meist geküssten Mädchen in Göttingen

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Vor dem Alten Rathaus in Göttingen, der südniedersächsischen Universitätsstadt, findet man ein Mädchen, das als das meist geküsste der Welt gilt.

Es regnet nicht mehr. Die Morgensonne sucht einen Weg zwischen Wolken. Ihr hartes Licht trifft das Gemäuer des Alten Rathauses im südniedersächsischen Göttingen. Davor steht es: das „Gänseliesel“. Laut Prospekt des Tourist-Service „das meist geküsste Mädchen der Welt“. Die zarte Schönheit aus Bronze, nicht ganz lebensgroß, steht seit 110 Jahren hier auf einem Podest inmitten eines Brunnens auf dem Marktplatz der Universitätsstadt.

Heute ist Blumenmarkt. Einladende Stände, einige überdacht, herrliche Blumenpracht, einige Frauen mit Einkaufstaschen, frühe Spaziergänger und Studenten auf dem Weg zur Uni ziehen vorbei.

Gänseliesel und ihr Korb

Gänseliesel, neben ihr eine Gans, schaut auf ihren Korb, den sie in der Hand hält. Sie schaut sie nicht an, die Passanten, die mal neugierig, mal gelangweilt zu ihr hinaufschauen. Gut so, denke ich. Dadurch hat die kleine Gänsemagd vieles nicht gesehen, was hier, zu ihren Füßen, alles geschah.

Als ich als Student in Göttingen war, da traf man sich am Gänseliesel. Entweder um hier zu sitzen und gucken, zum Reden, zum Trinken oder zu Kundgebungen nach den vielen Demos, die es damals gab. Hausbesetzer und RAF-Sympathisanten demonstrierten hier, Studenten im Unistreik und Friedensbewegte. Wie viel Blödsinn hat sich Gänseliesel damals geduldig anhören müssen?

Göttingen wurde 1734 Universitätsstadt. Die Stadt der Kleinbürger und Bauern wandelte sich und schrieb immer wieder Geschichte. Carl Friedrich Gauß leitete die Sternwarte der Universität, Otto von Bismarck studierte hier, die Grimms und Heine waren hier; es gab die „Göttinger Revolution“ ein Jahr nach der von 1830, es gab die „Göttinger 7“, jene sieben Professoren, die gegen einen Erlass des Königs demonstrierten und deshalb aus dem Dienst entlassen wurden und vieles mehr.

Grimmig schauen die steinernen Löwen

Die Steinfliesen auf dem Marktplatz trocken ab. Grimmig schauen die steinernen Löwen, die an den Treppen des Rathauses wachen. Noch ist niemand in Sicht, der Gänseliesel küssen will. Da heißt es warten. Ein Stadtführer verkürzt die Zeit. 1901 wurde Gänseliesel hier hingestellt. Eine einfache Magd, kein Gelehrter, wie man in einer Unistadt erwarten würde. Die Göttinger Bürger hatten das so entschieden. Eine festliche Einweihung hat es nie gegeben. Warum, das weiß heute eigentlich niemand mehr.

Was mag Gänseliesel alles gesehen haben?

Was alles mag Gänseliesel in ihrem bronzenen Leben gesehen haben? Der Bau der Straßenbahn, die nie fertig wurde, weil der 1. Weltkrieg begann? Die Burschenschaftler, die sonntags hier in Uniform flanierten? Die rote Fahne, die man in der Novemberrevolution 1919 auf dem Rathaus zeigte? Der Aufmarsch des Militärs während des Kapp-Putsches 1920? Was ist mit den Aufmärschen der Nazis? Hitler war 1932 in der Stadt. Er sprach in einem Park am Stadtrand. Weit weg – Gänseliesel hörte nichts.

Im Stadtteil Grone wählte man trotz Einschüchterungen der Nazis weiterhin mehrheitlich SPD. In Grone werde ich heute zu Mittag essen. Vom Krieg blieb die alte Universitätsstadt größtenteils verschont. Britische Truppen besetzten die Stadt, die in den kommenden Jahrzehnten aufblühte. In der Wissenschaft und im Bereich der Industrie.

Fachwerkhäuser, rötliche Dächer, schmale Straßen

Dennoch: Die Innenstadt mit ihren Fachwerkhäusern, rötlichen Dächern, schmalen Straßen – das macht Göttingen Reiz aus. Um die Altstadt herum hat sich eine moderne Stadt entwickelt. Gänseliesel sieht es nicht – sie sieht nur das alte, das verträumte Göttingen. Ein kleiner Trupp junger Leute nähert sich. Zwei ziehen einen Bollerwagen. Der junge Mann mit dem schwarzen Doktorhut, der darin sitzt, lächelt. Seine zehn Begleiter ebenfalls. Ihr Ziel ist der Gänselieselbrunnen.

Die Studenten liebten Gänseliesel von Anfang an. Wer sich an der Uni immatrikulierte, musste auf den Brunnen steigen und die Bronzefigur küssen. Das Ganze war natürlich von feucht-fröhlichen Studentenfeiern begleitet. Die Partys der 20er Jahre müssen so heftig gewesen sein, dass 1926 ein „Gänseliesel-Kussverbot“ per Gesetz erlassen wurde.

 Das „Kussverbot“ wurde übrigens erst vor zehn Jahren aufgehoben… Allerdings die Studenten ließen sich davon nicht so richtig abhalten. Fortan küssten nicht mehr alle Neustudenten das Gänseliesel, sondern nur noch die Doktoranden. Und das ist bis heute so.

Der junge Doktor schwingt sind auf den Brunnen, legt der Magd traditionsgemäß einen Blumenstrauß in den Korb, küsst sie auf die Wange und steigt unter dem schüchternen Applaus seiner Begleiter wieder herab. Eine Sektflasche wird geöffnet. Man lacht und schwatzt. Heute werden noch mehrere Trupps mit jungen Männern, die eine Bronzefigur küssen wollen, ankommen. So wie jeden Tag. Gänseliesel schaut geduldig. Sie kennt das Spiel. Liesel, das wohl meist geküsste Mädchen der Welt. Seit 110 Jahren.

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